Der Tarotgarten der Niki de Saint Phalle

Die Planung der Sommerferien steht bevor: es ist immer gut, wenn sich egal wo auf der Welt ein Park oder Garten unter die Besichtigungen mischt. Wenn es dieses Jahr in die süd-liche Toskana geht, sollte unbedingt der Tarotgarten der Künstlerin Niki de Saint Phalle auf dem Plan stehen, denn
sie gehört zu den bedeutendsten und bahnbrechendsten Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts.

Niki de Saint Phalle wurde 1930 in Frankreich geboren und verbrachte ihre Kindheit zwischen New York und Nièvre im Schloss ihrer Großeltern. Hier, umgeben von ihrer vielschichtigen Familie, begann sie, ihrer symbo-lischen Fantasie Gestalt zu verleihen. Auf einer Spanienreise entdeckte Niki de Saint Phalle das Werk von Antoni Gaudí, das sie entscheidend prägen sollte; insbesondere der Parc Güell in Barcelona beeinflusst ihren Entscheid, einen eigenen Skulpturengarten zu schaffen, und regt sie dazu an, verschiedene Materialien und Fundobjekte zu Hauptelementen ihrer Kunst zu machen. Als ihr 1977 über ihre Freunde und Gönner Carlo und Nicolo Caracciolo ein Grundstück mit einem Steinbruch in der süd-lichen Toskana angeboten wird, beginnt sie einen Park mit Figuren des Tarotspiels zu gestalten. Warum Tarot? Weil Niki mit ihnen spielte und in ihnen oft nach Antworten suchte, von denen sie vermutete, dass sie alte, universelle Weisheiten enthielten. Jede der 22 großen Arkanafiguren der Karten wird nun einer Statue entsprechen. 20 Jahre lang sollte der Schaffensprozess in der Maremma anhalten. „Sollte unser Leben ein Kartenspiel sein, so werden wir geboren, ohne die Regeln zu kennen. Dennoch müssen wir mit den Karten in unserer Hand zurechtkommen…“ beschreibt Niki de Saint Phalle den Grundgedanken ihres Tarotgartens. Sie erdachte und konzipierte einen „esoterischen Spaziergang zwischen Natur und Kultur“. Und so hielten Sphinx, Hohepriesterin und ein Magier Einzug im ersten Part des Parks.

Jean Tinguely überträgt Proportionen

Mit Jean Tinguely, einem Schweizer Künstler, ihrem Ehemann, gelang die Umsetzung. Dank seines geschulten Blicks auf Proportionen konnten die Modelle in perfekter Weise vergrößert werden. Alle Armierungen der Monumentalskulpturen wurden durch die Muskelkraft der Arbeitsequipe um Tinguely aus Eisenstücken geformt und zusammengeschweißt. Niki schreibt dazu: „Die zweite Gartenhälfte – das „Schloss des Kaisers“, die „Sonne“, die „Stärke“ und der „Hängende“ – wurde von Doc Winsen geschweißt, einem holländischen Künstler, dem Tonino Urtis zur Seite stand. Schon bald ernannte ich Tonino zum Chef der Equipe, obwohl er keine Erfahrung im Schweißen besaß, da er eigentlich Elektriker war. In meinen Entscheidungen ließ ich mich stets von meiner Intuition leiten, und häufig fiel die Wahl gerade deswegen glücklich aus.“

Entstehung im Team

Mit Fertigstellung der Armierungen und des Eisengeflechts waren die Skulpturen bereit für das Aufspritzen des Zements, der ihnen zunächst ein trauriges Aussehen gab. „Ich hatte Ricardo Menon, meinen persönlichen Assistenten, Mitarbeiter und Freund, der mit mir aus Paris gekommen war, gebeten, einen Töpfer zu finden. Einige Tage später stellte mir Ricardo, ein wahrer Zauberer, Venera Finocchiaro vor. Sie sollte die Töpferin des Gartens werden, in dessen Welt sie völlig eintauchte. Sie lebte im Garten und entsprach meiner Bitte, neuartige Dinge zu schaffen, die es zuvor in der Keramik noch nicht gegeben hatte. Ihre herrlichen Arbeiten sprechen für sich selbst. Sie hatte mehrere Assistentinnen, darunter Paola, Patrizia und Gemma. Manchmal arbeitete die ganze Equipe am Töpferofen. Nachdem uns Venera wieder verlassen hatte, führte die Equipe die Töpferarbeiten fort.“

Ein Materialmix aus Eisen, Zement und Glas

Die Keramiken wurden zum größten Teil direkt auf den Skulpturen geformt und nach dem Trocknen entfernt, um im Ofen bis zu dreimal gebrannt zu werden. Anschließend wurden sie wieder auf die Skulpturen gesetzt. Da die Töpferwaren im Brand 10% ihres Umfanges verloren, wurde der Leerraum drum herum mit von Hand geschnit-tenen Glasstücken aufgefüllt. Diese Arbeit führten verschiedene Helfer aus. Hin und wieder arbeitete Niki de Saint Phalle jedoch auch in ihrem Atelier in Paris an ergänzenden Polyesterfiguren. Zu den von ihr und ihrem Team hergestellten Werken gehören die „Mäßigkeit“, „Adam und Eva“ (die Wahl), die „Welt“, der „Eremit“, das „Orakel“, der „Tod“ und der „Hängende“. Später wurden diese Skulpturen mit Glasmosaiksteinen aus Murano, der Tsche-choslowakei und Frankreich verkleidet. Dazu kamen auch wieder Künstlerfreunde zum Einsatz, die händisch und in besonderer Technik das Glas schnitten. Alle Farben folgen einem symbolischen Code: Rot steht für kreative Kraft, Grün für Vitalität, Blau ist die Farbe des Denkens und Willens, Weiß steht für Reinheit, Schwarz steht für Eitelkeit und die Schmerzen der Welt, während Gold Intelligenz und Spiritualität symbolisiert. Niki baute sogar ein Haus innerhalb der Statue der Kaiserin, das vollständig mit lichtreflektierenden Spiegeln bedeckt war, in dem sie während der Fertigstellung des Projekts mehrere Monate lang lebte. Die Künstlerin berichtet: „In den letzten Jahren arbeiteten vor allem Tonino Urtis, Ugo Celletti, Marco Iacotonio und Claudio Celletti im Garten. Von derselben Begeisterung getragen, sind wir zu einer echten Familie geworden. Gian Piero Ottavi stieß zur Equipe dazu. Er kümmerte sich um die Blumen und Bäume des Gartens.“ Es war der Künstlerin wichtig, das natürliche Umfeld der Region, die Macchia mit wilden Sträuchern, zu erhalten. Der Dialog zwischen der Natur und den Skulpturen war und ist ein wichtiges Element des Gartens.

Künstlergäste im Garten

Mehrere Künstlerinnen und Künstler sind mit besonderen Arbeiten im Garten vertreten: Der Architekt Mario Botta schuf den Eingangsbereich, Alan Davie malte im Kopf des Magiers einen magischen Raum; Pierre Marie Le Jeune schuf die Keramikbänke, die in die Felsen um den Brunnen integriert sind und auf denen sich die Besucher gerne ausruhen. Von ihm sind auch die Stühle in der Sphinx und die Dekoration der Boutique. Marina Karella führte die Skulptur der Priesterin aus, die in der Hohepriesterin steht. Jean Tinguely baute die Maschine, die den in den Turm von Babel einschlagenden Blitz darstellt, den Brunnen mit dem Rad des Schicksals und die von ihm so genannte „Figur der Ungerechtigkeit“, die er mit einem großen Vorhängeschloss in der „Gerechtigkeit“ einsperrte; zudem schuf er gemeinsam mit mir die Skulptur der „Welt“. Jackie Matisse fertigte alchimistische Gläser für geweihtes Wasser an. Der Tarot-Garten wurde 1997 fertiggestellt und im folgenden Jahr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Er bietet der Welt ein wirklich einzigartiges ästhetisches und emotionales Erlebnis, einen Einblick in die komplexe und faszinierende Bilderwelt einer der kreativsten und originellsten Frauen des Jahrhunderts. Um ihren Tarot-Garten mit allen 22 Figuren zu erhalten, gründete Niki de Saint Phalle 1999 eine Stiftung, benannte persönlich die Mitglieder des Stiftungsrates und legte dessen Aufgabe klar fest: die Erhaltung des Gartens!

De Tarocchi-Garten findet man in der südlichen Toskana,
in der Maremma am Standort: 

Garavicchio, Pescia Fiorentina
58011 Capalbio, Grosseto
Telefon: +39 0564 895122

Ticket: 14 Euro
Ermäßigt: 9 Euro

Öffnungszeiten: vom 1. April bis 15. Oktober montags bis sonntags von 14.30 bis 19.30 Uhr.
Auf Wunsch der Künstlerin wird auf Führungen verzichtet, um den Besuchern die Freiheit zu lassen,
die Werke nach eigenem Empfinden zu erleben und zu interpretieren.