Ab in die Botanik – Sehendes Grün

In Chile wächst eine Kletterpflanze, die etwas Erstaunliches tut: Boquila trifoliolata imitiert das Laub des Baumes, den sie emporwächst. Die Blätter werden in Größe, Form, Farbe und bis in die Äderung hinein nachgeahmt - und wenn B. trifoliolata beim Klettern zufällig an anders geformtem Grün eines Nachbarbaumes vorbeiwächst, wird auch dieses kopiert. Wie macht die Pflanze das?

Die Entdecker des Phänomens, die es 2015 in Current Biology publizierten, schlugen zwei Erklärungen vor: Entweder Boquila vermag flüchtige Stoffe ihrer Wirtspflanze zu detektieren, in denen irgendwie Informationen über deren Laubdesign codiert sind - oder sie gelangt über horizontalen Gentransfer an die fremden Blattbaupläne. Dieser kommt bei Bakterien vor. Vielleicht wird die Mimikry der Boquila ja durch in der Luft schwebende Mikroben vermittelt.

Beides sind durchaus abenteuerliche Hypothesen. Aber es geht noch wilder: 2022 publiziert ein Freizeitforscher aus Utah zusammen mit einem Botaniker der Universität Bonn im Fachjournal Plant Signaling & Behaviour Experimente, nach denen Boquila auch die Blattformen von Plastikpflanzen nachahmt. Diese dünsten weder einschlägig informative Moleküle aus, noch haben sie DNA, die luftgängige Einzeller verfrachten könnten. Für die Autoren bleibt daher nur noch eine Möglichkeit: Boquila trifoliolata gucke sich die fremden Blattformen ab. Nun zeigen Pflanzen sogenannten Phototropismus: Sie richten sich auf Lichtquellen aus, müssen deren Position also bestimmen können. Erst im November erschien in Science eine Studie, die bei der Acker-Schmalwand nachwies, dass bei der pflanzlichen Verarbeitung von Lichtinformation auch optische Eigenschaften im Pflanzengewebe mitwirken. Aber Informationen über die Geometrie einer Lichtquelle lassen sich auf diese Weise schwerlich vermitteln. Lichtempfindlichkeit ist noch kein Sehen.

Ist die Grenze zwischen beidem vielleicht unschärfer als gedacht?

Bereits 1905 vermutete Gottlieb Haberlandt in seiner Schrift "Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter", plankonvexe Strukturen in der oberen Epidermis könnten Licht fokussieren und damit als einfache Augen fungieren. An dem Cyanobakterium Synechocystis und der Grünalge Chlamydomonas reinhardtii ist auch tatsächlich nachgewiesen, dass sie ihre Zellen wie sphärische Mikrolinsen einsetzen, um Lichtquellen anzusteuern. Aber selbst wenn Boquila trifoliolata über derlei Optik verfügen sollte, so präsentieren die Autoren aus Utah und Bonn doch keine Erklärung, wie die Pflanze die optische Information in Wuchsmuster ihrer Blätter umsetzt. Aber nicht nur deswegen schlagen ihrer anfangs gefeierten Publikation, die immerhin von neun Gutachtern für veröffentlichungswürdig befunden worden war, inzwischen vor allem Zweifel entgegen. Insbesondere einer der beiden chilenischen Entdecker der Blattmimikry ließ am Studiendesign kein gutes Haar. Er kritisiert eine mangelhafte Kontrolle von Störquellen und falschen Gebrauch statistischer Methoden. "Das ist das Lehrbuchbeispiel eines Confirmation bias", sagte er dem Wissenschaftsmagazin The Scientist. "Die Forscher haben sich in ihre Hypothese verliebt."

Die kritisierten Autoren dagegen stehen zu ihrem Ergebnis, wonach Boquila trifoliolata auch Plastikblätter imitiert, und arbeiten an neuen mittels Kontrollgruppen validierbaren Experimenten. Die gestalten sich allerdings schwieriger als gedacht, denn die chilenische Kletterpflanze mag einfach nicht allein wachsen. Sobald man ihr aber ein Gewächs zur Verfügung stellt, auf dem sie klettern kann, beginnt sie dieses zu imitieren. Quelle: Gianoli, E. und Carrasco-Urra, F. (2014) : Leaf Mimicry in a Climbing Plant Protects against Herbivory. In: Cell, Volume 24, (24. April 2014), DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.cub.2014.03.010.

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34545774/

Autor: Ulf von Rauchhaupt, © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Alle Rechte vorbehalten. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.